Das erste Gedicht von Goethe erlernte ich im 5. Schuljahr. Es handelte sich dabei um "Gefunden". Der Inhalt dieses Gedichtes faszinierte mich damals so sehr, dass ich mich drei Jahre später dazu entschied, mich in Rahmen einer Jahresarbeit in Deutsch mit dem Leben Goethes erstmals zu beschäftigen. Als Lektüre verwendete ich die Goethe-Biografie von Richard Friedenthal, die ich mir in den letzten Tagen ebenso aus meiner Bibliothek gezogen habe, wie diverse Bücher von Sigrid Damm, nicht zuletzt "Christiane und Goethe", zudem Sabine Appels "Im Feengarten" und zwei wichtige Bücher von Dagmar von Gersdorff ("Marianne von Willemer und Goethe" und "Goethes Mutter"), außerdem fast ein Dutzend Bücher zu Goethes Leben aus dem Schnell-Verlag und weitere Werke aus dem Insel-Verlag. Eine innere Stimme warnte mich spontan, konkrete Vergleiche vorzunehmen.
Was kann mir Safranski noch mitteilen, was all die Autoren vor ihm nicht schon berichtet haben, so fragte ich mich?
Um dies zu erkunden, habe ich das Werk gelesen und recht bald festgestellt, dass der Philosoph Safranski dem intellektuellen Goethe mehr Raum gibt als all die anderen Autoren, die bei der Goetheerkundung wohl mehr den psychologischen Hebel angesetzt haben. Goethe aber kann man letztlich psychologisch nicht wirklich ausloten, dazu hatte er ein zu komplexes Seelenleben. Eigentlich war er ja ohnehin ein absoluter Geistesmensch, ein Analytiker mit genialen Fähigkeiten, von einer inneren Weite, die man in ihren Dimensionen ohnehin nur im Ansatz erahnen kann.
Darauf reagiert Safranski und setzt dort den Hebel an, wo Goethes Stärke lag: im Denken.
Rüdiger Safranski hat sein Buch in 32 Kapitel untergliedert und breitet das Leben, Denken und Werk des großen Frankfurter Sohns so vielschichtig aus, wie ich es in keiner der vorangegangenen biografischen Beschreibung gelesen habe. Der Biograf geht in die Tiefe. Ein Beispiel dafür führe ich weiter unten an.
Zwar sind mir sehr viele Personen aus Goethes Leben bekannt, weil ich im Rahmen meiner 15 Weimar-Exkursionen immer wieder Bücher kaufte, die sich mit dem Personenkreis um Goethe befassen und außerdem Goethes Aufenthaltsorte besuchte, um nach Spuren von ihm zu forschen. Diese gibt es übrigens auch noch in Sesenheim.
Safranski steigt in Texte von Goethe ein und macht den Geistesmenschen auf diese Weise erfahrbar. Der Biograf zitiert Goethes Werke, auch Briefe und nutzt eine Fülle von Quellen, die er auflistet. Safranski hat diverse Biografien zu Goethe gelesen, u.a. auch jene von Friedenthal und zudem Primärtexte von Philosophen sowie Sekundärliteratur studiert, auch einige Bücher, die ich eingangs genannt habe.
Safranski kennt seinen Goethe und hält mit seinem Wissen nicht hinter dem Berg. Ich bin überaus beeindruckt und frage mich wie Goethe reagieren würde, wenn er wüsste, dass ihn jemand so gut kennt. Ich vermute er würde mit diesem Menschen ein Flasche Rheingauer Riesling oder einen fränkischen Steinwein trinken und ihn im Gegenzug heiter zu analysieren beginnen:-))
Natürlich werde ich die Biografie an dieser Stelle nicht zusammenfassend wiedergeben und ich werde, wie ich schon sagte, im Rahmen der Rezension auch keine direkten Vergleiche zu anderen Biografien herstellen. Das wäre vermessen und sollte Germanistikprofessoren überlassen bleiben.
Gefallen hat mir, dass zu Anfang eines jeden Kapitels für Insider erkennbar wird, worum es in dem jeweiligen Kapitel geht. Als Beispiel hierzu sind die Vorabinfos des Einunddreißigsten Kapitels:
"West-östlicher Divan: Lebensmacht der Poesie. Islam. Religion überhaupt. Poet und Prophet. Was ist Geist? Glaube und Erfahrung. Die Anerkennung des Heiligen. Das Indirekte. Die Plotin-Kritik: der Geist in der Bedrängnis des Wirklichen. "Wilhelm Meisters Wanderjahre" als Probe aufs Exempel. "Die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken". Prosa und Poesie im Streit. Warum eigentlich Entsagung?" (S.561).
Nicht grundlos habe ich die Kurzinformationen dieses Kapitels gewählt, denn hier lernt man etwas über Goethe und seine Fähigkeiten zu sublimieren kennen. Vielleicht konnte aus Goethe nur der werden, der er war, weil er in der Lage war, immer wieder zu entsagen. Entsagen machte sein dauerhaftes Sehnen möglich und verstärkte Goethes Kreativität ins Unermessliche.
Es stimmt, Goethe hat seine Freiheit schöpferisch gebraucht. "Er ist ein Beispiel dafür, wie weit man damit kommen kann, wenn man es als Lebensaufgabe annimmt, zu werden, der man ist" (Zitat Safranski: Seite 650).
Goethe ist einer der wenigen Menschen, der seinen Gaben gerecht wurde und das funktionierte meines Erachtens deshalb so gut, weil er wie kein anderer zu sublimieren in der Lage war. Spätestens nach
Safranskis Biografie habe ich daran keine Zweifel mehr.
Sehr, sehr empfehlenswert.
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