Die mittlerweile 96 jährige Künstlerin Gerti Michaelis Rahr erzählt im vorliegenden Buch ihre ereignisreiche Lebensgeschichte. 1921 wurde sie in Stettin/Westpreußen geboren und lebt heute unweit von Leutkirch im Allgäu.
Bereits als Kind erhielt die spätere Ballettmeisterin Tanzunterricht. Sie hatte Glück, denn ihr Vater war ein musikalisch veranlagter Mensch, wie sie schreibt und förderte ihre Begabung. Erzogen wurde sie liberal, besuchte – was damals für Mädchen noch unüblich war- das Gymnasium und engagierte sich im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen nicht im "Bund Deutscher Mädchen (BDM)" sondern hatte fast ausschließlich Ambitionen für ihre künstlerische Tätigkeit.
Als 19 jährige verlegte sie ihren Wohnsitz nach Weimar, wo sie sich in der dortigen Musikhochschule als Gasthörerin eintrug. Ihr Theaterengagement am Weimarer Nationaltheater ließ es nicht zu, alle Fächer belegen zu können. Die Autorin berichtet davon, dass der konstant klassische Spielplan dort ein Höchstmaß an tänzerischer Technik und Ausdruck abverlangte. Dabei war das Weimarer Nationaltheater offenbar immer ausverkauft und das fünfundsiebzig Mann starke Staatsorchester beflügelte Gerti, zu bis dahin nicht gekannten Leistungen.
Nicht unerwähnt lässt die Autorin, dass das Nationaltheater Weimar neben dem Nürnberger Opernhaus sowie der Bayreuther Oper zu Hitlers Lieblingsbühnen zählten. Trotz dieser Tatsache, sei er während ihrer Spielzeit in Weimar aber nicht aufgetaucht. Sie lernte allerdings eine Reihe anderer hochrangiger Nazis in Weimar kennen unter anderem die Frau des Lagerkommandanten von Buchenwald, die berüchtigte Ilse Koch-, deren dissoziale Persönlichkeit mehr als nur schockierend war.
Gerti Michaelis Rahr erzählt von ihren Eindrücken damals, auch von ihrer Zeit am Theater in Guben und vom Kennenlernen ihres ersten Mannes, dem ungarischen Diplomaten Andreas Török von Szendrö, der zu diesem Zeitpunkt auf Schloss Bärenklau in Guben lebte, weil die ungarische Gesandtschaft und das Konsulat dort einige Räume angemietet hatte.
Was zunächst ein wenig nach Märchen klingt, spitzt sich in der Folge allerdings immer mehr zu einem Drama zu, denn diese Liebesgeschichte war an viel Leid gebunden, das von außen auf die beiden einstürzte. Gerti musste wie all ihre weiblichen Theaterkolleginnen Ende des Krieges in einer Munitionsfabrik arbeiten. Sie berichtet von der Grausamkeit der Nazis selbst kriegsgefangenen Kindern gegenüber und von der Drohung, die ihr widerfuhr, ins Arbeitslager geschickt zu werden, wenn sie weiterhin Mitgefühl gegenüber diesen Kindern an den Tag legen würde.
Ihr weiteres Schicksal führt sie nach Berlin und von dort nach Dresden, wo ihre Mutter und ihre Schwester, die Bombennächte des Februars 1945 überlebt hatten. Die Autorin beschreibt, was sie in dieser zerstörten Stadt sieht, während sie ihre Angehörigen sucht.“Die Menschen (…) erstickten, verkohlten, schrumpften zusammen. Zum Teil konnte man erst nach Tagen die überhitzten Keller von außen öffnen und die Leichen auf den Trümmern überdeckten Straßen platzieren.Der Anblick brachte mich immer wieder an den Rand der Ohnmacht“.
Ihre Mutter und ihre Schwester will Gerti in einem Häuschen außerhalb Berlins unterbringen. In Berlin üben mittlerweile die Tataren Rache dafür, was die Deutschen den Russen angetan hatten, vergewaltigen Frauen und verwüsten die Stadt.
Gerti, die einen gefälschten, ungarischen Pass besitzt und als Ehefrau von Andreas gilt, wird von den marodierenden Soldaten in Ruhe gelassen, doch wird sie nach Kriegsende mit ihrem späteren Ehemann in ein Internierungslager in die Nähe von Moskau verschleppt.
An ein freies Leben und an Aufbau ist für sie nach der Kapitulation demnach nicht zu denken. Sie bangt erneut um ihre Zukunft. Auch von ihren Eindrücken damals und jenen, die sie später in Ungarn sammeln konnte, schreibt sie packend, sogar, dass man sie in Ungarn des Landesverrates verdächtigt hat.
Die Herkunft ihres Mannes ist nun im kommunistisch gewordenen Ungarn alles andere als ein Vorteil. Gerti, die 24 jährige, faktisch noch unverheiratete Künstlerin befindet sich in einem fremden Land, deren Sprache sie nicht spricht und berichtet, was sich dann in der Folge ereignet, schreibt von ihrer Eheschließung, von der Geburt ihrer beiden Kinder, den Schikanen der örtlichen Parteizentrale und ihrer Tätigkeit als Ballettmeisterin in Ungarn, die ihr einige schwierige Prüfungen abverlangte. Mit einer beachtlichen Dissertation in Französisch und Ungarisch erlangte die Künstlerin das Diplom "Pädagogin und Ballettmeisterin für klassisches Ballett und ungarischen Volkstanz", der dem Titel einer Professorin entsprach.
Sie schreibt von ihrer erfolgreichen, beruflichen Tätigkeit, schreibt aber auch von den vielen Schattenseiten in ihrem Leben in Ungarn, dem Aufstand des ungarischen Volkes im Jahre 1956 gegen das kommunistische Regime und der Tatsache, dass es damals für sie und ihre Familie keine Fluchtmöglichkeiten gab.
Erst 1963 kommt sie nach Deutschland zurück und wieder steht ihr und ihrer Familie ein Neuanfang ins Haus. Erneut sind die Herausforderungen riesig, erneut geht Gerti ihren Weg und lernt, nach dem Tode ihres Gatten, einen anderen Mann kennen, mit sie entspanntere Zeiten erlebt, die man beinahe als Ausgleich für das, was zuvor über sie hereingebrochen ist, begreifen könnte.
Wann stehen Beziehungen unter einem guten einem guten Stern? Wenn man an Bürden, die man gemeinsam vom Schicksal auferlegt bekommt, wächst? Oder doch eher, wenn man problemlos liebend, die Leichtigkeit des Seins genießen kann?
Dies ist ein äußerst spannend zu lesendes Buch von einer Frau, die sich aufgrund von politischen Unwägbarkeiten nicht unterkriegen ließ, sich selbst treu blieb, ihre Mitmenschlichkeit nicht verleugnete und sich nicht an Unrechtsregime anpasste, jedoch durch sie erfahren hat, wie inhuman Menschen sein können, wenn man ihnen Macht gibt.
Sehr empfehlenswert
Helga König
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Der Vorhang fiel: Lebenswege einer Künstlerin durch drei Diktaturen
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