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Rezension:Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität: Eine Psychobiographie (Taschenbuch)

Der Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Prof. Dr. Rainer M. Holm-Hadulla lehrt an der Universität Heidelberg. Ferner ist er als Psychoanalytiker tätig und berät Wissenschaftler, Künstler, Unternehmer und Politiker.

In der vorliegenden Psychobiographie geht Holm-Hadulla der Frage nach welche Umstände die überbordende Kreativität Goethes auslösten und immer wieder gefördert haben. Der Psychotherapeut lotet das gesamte Leben, aber auch viele der Werke des Dichters diesbezüglich aus und kommt zu bemerkenswerten Ergebnissen.


Abgeleitet ist das Wort Kreativität von dem lateinischen Wort "creare", das "schaffen, erzeugen, gestalten" bedeutet. Holm-Hadulla hält fest "Kreativ kann eine begabte Person sein, wenn sie sich auf einem erfolgversprechenden Gebiet und in einem fördernden soziokulturellen Kontext produktiv betätigt."


Der Autor nennt fünf Bedingungen für Kreativität - Begabung, Wissen, Motivation, Persönlichkeit sowie Umgebungsbedingungen - und geht im Einzelnen auf diese Bedingungen näher ein.


Begabungen lassen sich aufgrund der modernen Intelligenzforschung in sieben Bereiche untergliedern: sprachlich, logisch-mathematisch, musikalisch, körperlich - kinästhetisch, räumlich, interpersonal und intrapersonal.


Neben den intellektuellen Begabungen sind bestimmte Denkstile günstig für die Kreativität und zwar solche die flüssig, assoziativ, divergent und originell sind.


Handwerkliches und intellektuelles Wissen bilden die Voraussetzungen Informationen neu und originell zu kombinieren.


Sollen aus Begabungen kreative Produkte entstehen, sind verschiedene Motivationen erforderlich. Holm-Hadulla nennt drei Faktoren: Neugier, Interesse und Ehrgeiz.


Der Wissenschaftler begreift Neugier als einen Ausdruck von Lebendigkeit. Er macht deutlich, dass sie nur dann zu kreativen Leistungen führt, wenn ausreichend Sicherheit in der Person und ihrer Umgebung vorhanden ist. Interesse definiert der Autor als Bedürfnis und Fähigkeit, sich von einer Sache völlig gefangen nehmen zu lassen. Ehrgeiz schließlich ist das Streben nach Anerkennung.


Holm-Hadulla nennt in der Folge Persönlichkeitseigenschaften, die mit Kreativität assoziiert werden: "Flexibilität, Originalität, Selbstvertrauen, Widerstandsfähigkeit, Authentizität und Transzendenz."


Transzendenz, gemeint ist die Realisierung von Werten, die außerhalb egoistische Bedürfnisse liegen, ist nach Meinung des Professors die wesentliche Vorraussetzung der Kreativität. Ferner spielen bei allem kreativitätsfördernde Entwicklungsbedingungen eine Rolle.


Holm-Hadulla untergliedert Leben und Werk Goethes in die Abschnitte: Kindheit und Jugend: Frankfurt 1749-1765, Leipziger Studentenkrise 1765-1768, Rückkehr ins Elternhaus 1768-1770, Flucht vor der Liebe: Straßburg 1770-1771, Frankfurter Refugium 1771-1772, Leidenschaft und Entsagung: Wetzlar 1772, Frankfurter Geniezeit 1772 -1775, Goethes Konflikte im Spiegel seiner frühen Dramen, Zeit der Reife: Weimar 1775-1786, Neugeburt in Italien 1786-1788, Die große Liebe: Weimar 1788-1806, Politische Veränderungen und neue Leidenschaften, 1806-1821 (Wilhelmine , Silvie, Marianne), Späte Liebe , Alter und Abschied 1821-1832 und subsumiert die Sachverhalte den Kriterien der Kreativität gemäß.


In seiner Psychobiographie verdeutlicht der Autor schrittweise die kreative Selbstwerdung des Dichters. Er schreibt von Ängsten, Verzagtheiten und quälenden Minderwertigkeitsgefühlen in dessen Jugend, dessen Beziehung zu den Eltern, der Schwester Cornelia und den Jugendfreunden.


Thematisiert wird die Art des Umgangs mit traurigen Ereignissen bei Goethe, die sein ganzes Leben charakteristisch für ihn war. Immer wieder kann man Rückzug, intellektuelle Beschäftigung und Selbstversenkung, die gefühllos erscheinen konnte, wie Holm-Hadulla treffend bemerkt, feststellen, allerdings aber auch die Suche nach Alternativen, wie Lesen, Denken und Phantasieren.


Man liest von Goethes erster Liebe und allen Frauen, die besagtem Gretchen folgten. Stets hat der Dichter Liebesbeziehungen idealisierend überhöht und sich dann nicht selten entschlossen abgewandt, um so letztlich Stoff für seine Dichtungen gewonnen. Abermals und abermals zieht er schöpferische Energie aus Enttäuschung und Zurückweisung und setzt dies in schriftstellerische Arbeit um.


Der Psychiater konstatiert, dass Frauen wie Gretchen, Kätchen Schönkopf, Friederike Brion, Charlotte Buff, Frau von Stein, Marianne Willemer und Ulrike von Levetzow zum Projektionsschirm für Gefühle und Ideen wurden. Goethe soll sich in diesen Damen gespiegelt und die Empfindungen seiner Geliebten aufgenommen haben und auf diese Weise bereichert zu sich zurückgekehrt sein.


Holm-Hadulla macht den Leser mit dem Begriff des poetischen Selbst vertraut. Poetisch kann man nach seiner Auffassung ein Selbst nennen, das sich im Sinne der griechischen Auffassung von "poiein" (machen, gestalten, schöpferisch tätig sein) in einem kreativen Prozess der Selbstfindung und Selbstverwirklichung befindet.


Aus psychologischer Sicht erfüllen Goethes Dichtungen die Funktion ein kohärentes und wirksames Selbst poetisch zu erzeugen.


Professor Holm- Hadulla hält fest, dass die Dichtung zunächst ungestaltete Sinneseindrücke, körperliche Empfindungen, bewusste und unbewusste Beziehungserfahrungen lebbar und damit erst wirklich machten. Weiter lässt der Psychotherapeut seine Leser wissen, dass das poetische Selbst erst dann zur vollen Entfaltung gelangt, wenn es von anderen wahrgenommen wird. Stets aufs Neue zeigt sich, - der Autor dokumentiert dies breitgefächert-, dass die poetische Selbstverwirklichung dem Dichter über viele Lebenskrisen half, wie etwa solche in seinen Jugendjahren, ausgelöst durch Friederike und Lotte.


Sehr gut analysiert sind die psychologischen Hintergründe, die zu seinem Roman "Werther" führten.


Erwähnt werden muss, dass für die Arbeiten des Dichters nicht nur seine melancholischen Stimmungen, sondern auch seine Hochgefühle von Bedeutung waren.


Anhand vieler Beispiele wird die Wechselwirkung zwischen Goethes Leben und poetischer Umsetzung, denn um eine solche ging es, sehr erhellend dargeboten.


Gedichte, Dramen, seine Romane werden thematisiert und erwartungsgemäß wird das Verhältnis zu Charlotte von Stein unter psychologischen Gesichtspunkten fokussiert, an die ihn eine geheimnisvolle Seelenverwandtschaft band. Da im realen Leben die beiden sich nicht traumverloren hingeben konnten, fand Goethes poetische Selbst einen Weg in seiner Dichtung seine Träume und Sehnsüchte auszudrücken und die Phantasien "abgelebter" Zeiten neu zu erleben.


Nicht immer gelang es Goethe mittels seines poetischen Selbst seine Konflikte zu lösen, wie sich an den Motiven seiner italienischen Reise zeigt. Hier nämlich war die Spannung zwischen künstlerischem Gestaltungsdrang und konventioneller Pflichterfüllung im Vorfeld so groß geworden, dass sie eine räumliche Veränderung herbeiführte.


Im Rahmen seiner Italienreise liest man von Goethes Sexualität. Hier unterstreicht Holm-Hadulla, dass Goethe ihr immer aufgeschlossen gegenüberstand und von daher die Vorstellung, dass der Dichter das erste Mal während der Italienreise einen Koitus erlebt habe, nicht plausibel ist. Zudem belegt der Autor, dass regelmäßiger Geschlechtsverkehr der Schaffenskraft Goethes augenscheinlich zuträglich war.


Sehr interessant auch sind die Interpretation der Liebesbeziehung zu Christiane Vulpius und die intellektuelle Freundschaft zu Schiller. Deutlich wird, dass für Goethes Kreativität Lehrer, Freunde und geliebte Frauen, denen er sich offenherzig anvertraute, von größter Bedeutung waren. Schreiben war für Goethe eine Art Selbsttherapie. Emotionale Krisen waren Anlass und Nahrung für kreative Bewältigungsbemühungen. So wäre ohne die unglückliche Beziehung zu Lotte vermutlich nicht "Werther" entstanden und ohne die unausgelebte Beziehung zu Marianne von Willemer hätte es keinen "West-Östlichen Divan" gegeben.

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