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Rezension Peter J. König: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 - 1945-Marie Jalowicz Simon

Selten hat eine Biographie durch solche schonungslose Offenheit überzeugt, wie die hier dargelegte Erfahrung einer jungen Jüdin, die im Jahre 1942 unmittelbar vor ihrer Deportation in ein Konzentrationslager entschied, in den Untergrund zu gehen, um so unentdeckt vielleicht die Nazizeit zu überleben oder eventuell sich den Schergen durch Flucht ins sichere Ausland zu entziehen. Das im S. Fischer-Verlag erschienene Buch sind die Erinnerungen der damaligen Abiturientin Marie Jalowicz, Tochter eines angesehenen jüdischen Rechtsanwaltes in Berlin. Über 50 Jahre schwieg die spätere Professorin für Antike Literatur und Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität und vermied es selbst ihrem Sohn Hermann Simon auch nur andeutungsweise von ihren Erinnerungen aus dieser Zeit zu erzählen.

Erst kurz vor ihrem Tod, Marie Jalowicz Simon starb 1998, entschloss sie sich auf eindringliches Bitten ihres Sohnes hin, er war mittlerweile Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum, ihre zeitgeschichtlich so wichtigen Erfahrungen im Untergrund von Berlin in den letzten Kriegsjahren der Nachwelt zukommen zu lassen. Auf 77 Tonbändern wurden ihre Erinnerungen festgehalten, die Autorin Irene Stratenwerth hat zusammen mit Hermann Simon dieses entlarvende Buch über den verkommenen Zustand jenes Nazi-Deutschlands zu Papier gebracht.

Dass die 19jährige Jüdin überhaupt sich entschloss, sich nicht wie die allermeisten Glaubensgenossen von den national-sozialistischen Mördern abtransportieren zu lassen, verdankt sie ihrem unbändigen Willen überleben zu wollen. Dass dies ihr auch gelang, beruht auf ihrer Intelligenz und ihrer Auffassungsgabe für sie gefährliche Situationen sofort zu erkennen, um selbstbeherrscht rational immer wieder nach neuen Auswegen zu suchen. Dabei nahm sie alle Pein auf sich und sie war sich nicht zu schade, auch sexuell ausgebeutet zu werden. Ständig musste sie neue Verstecke suchen, sich bei Menschen einquartieren, die bereit waren ihr Unterschlupf zu bieten, um sie dann mit allen möglichen Arbeiten schonungslos zu belasten. Selbst die spontanen Verlobungen mit einem bulgarischen und einem holländischen Fremdarbeiter dienten dazu, wieder einmal für eine gewisse Zeit überleben zu können. Dabei grenzt es an ein Wunder, dass Marie Jalowicz sich jeder brenzligen Situation vor Entdeckung entziehen konnte, zumal die Bombenangriffe auf Berlin immer verheerender wurden und Wohnraum kaum noch vorhanden war. Immer wieder gelang es ihr durch permanenten Ortswechsel ihre wahre jüdische Identität zu verbergen, ihr Organisationstalent schaffte es wenigstens, ein Minimum an notwendiger Nahrung aufzutreiben.

Neben den unglaublichen Willensanstrengungen von Marie Jalowicz zu überleben, besteht der wahre Wert dieses Buches darin, hautnah zu erfahren, wie die Deutschen, und dies speziell in den unteren Schichten, denn dort suchte die Protagonistin ihre Chance sich im Untergrund zu verbergen, gegenüber dem Regime eingestellt waren, ob sie bereit waren zu helfen oder wie weit der bedingungslose Gehorsam gegenüber den Nazis ausgeprägt war. Diesbezüglich liefert das Buch einen erkennenswerten Eindruck, es zeigt den Zustand dieser bestimmten deutschen Gesellschaftsschicht zum Ende der Nazizeit von innen heraus. Es zeigt aber auch, wie es Hitler und seine Gesellen geschafft haben, innerhalb von wenigen Jahren eine Gesellschaft verrohen zu lassen und den Mord an den Juden als etwas Selbstverständliches zu betrachten, von den meisten zumindest.

Dass Marie Jalowicz dieses alles überlebt hat, grenzt wirklich an ein Wunder. Dass sie Deutschland nach der Kapitulation und der Erlangung ihrer persönlichen Freiheit aber nicht fluchtartig verlassen hat, ganz im Gegenteil in Berlin blieb, um hier zu studieren und um sich ein eigenes Leben aufzubauen, obwohl so viele Verwandte und Freunde von ihr von den Nazis getötet worden waren, zeigt, dass sie an ein anderes Deutschland geglaubt hat, ein Deutschland der Werte, die sie zuvor von ihren Vorfahren erklärt bekam, gerade weil sie Juden waren.

„Untergetaucht“ ist ein beeindruckendes Buch, das nicht nur sehr nachdenklich macht, was die deutsche Vergangenheit anbetrifft. Es ist damit ein unverzichtbares Zeitdokument. Aber ebenso berührend ist, mit welchem starken Willen und welcher unantastbaren Persönlichkeit diese junge Frau sich gegen ihr vermeintliches Schicksal gestemmt hat und dabei alles auf sich nahm, um zu überleben.

Sehr empfehlenswert

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